Von Mauern und Grenzen - oder: Romantik und Wirklichkeit
Als wir unser Grundstück kauften standen noch die Überreste eines alten Bauernhauses samt den dazugehörigen Stallungen. Alles in allem ziemlich marod, kein Hauch von wilder Romantik, keine Möglichkeit zu renovieren – das Teil gehörte dringend weg, keine Frage. Die Frage, die jedoch diskutiert gehörte war jene, ob die äußere Mauer, die Richtung Nachbarn zeigte, stehen bleiben sollte zur Begrenzung.
„Die Mauer ist alt, sie ist aus Natursteinen gebaut – so etwas macht heute keiner mehr; sie sollte unbedingt stehen bleiben – als wildromantisches Schmuckstück“, argumentierte mein Mann. Mein Ansatz war da zugegeben etwas pragmatischer. Eine Begrenzung zum Nachbargrundstück könne nicht schaden, dachte ich, jedoch war ich in Sorge ob uns das Alter der Mauer noch zum Verhängnis werden könne – sie ist alt, der Zustand ist unbekannt, die Mauer könnte einstürzen und der Schaden wäre dann unserer, auch wenn sich der Schaden rein auf die Entsorgung der alten Steine begrenzen würde. Mein Mann, der im Allgemeinen eine ausgeprägte Ader zum Romantischen hat und dadurch einen schönen Ausgleich zu meinem manchmal nüchternen Pragmatismus bietet, gab sich reichlich Mühe die Schönheit von alten Steinen, sorgsam zu Mauerwerk aufeinander geschichtet und durch die Jahre zu einem individuellen Werk verwittert in Worten bunt auszumalen; und ich gab nach.
Als wir die Nachricht erhielten, dass die alten Gebäudereste nun vollständig abgebrochen und fortgeschafft wären, fuhren wir voll freudiger Erwartung auf unser Grundstück. Brach und erstaunlich groß lag es vor uns – die Freude war immens; hässlich und auf banale Weise schäbig lag sie vor uns, die alte Steinmauer – das Erstaunen war groß. Keine Spur von wilder Romantik und handwerklichem Kunstwerk; keine Spur von kaputt und einsturzgefährdet; nackt und kahl – eine stinknormale Mauer.
Nun haben wir sie, die Mauer, die unser Grundstück auf einer Seite begrenzt und wir überlegen – wie kann man der Wirklichkeit mehr Romantik verleihen und wieviel Grenze ist eigentlich notwendig?
Neigen wir Menschen dazu, voreilig Grenzen aufzuziehen um
uns vor den Blicken anderer zu schützen und sind wir nicht manchmal auch stur,
wenn es darum geht alte Mauern einzureißen?
Riskieren wir nicht viel zu selten einen Blick hinter die Mauern, um unserem
Nachbarn etwas näher zu kommen?
Oft bekommt man zu hören: „Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.“ – aber stimmt das?
In einem Fachmagazin habe ich erst heute gelesen, dass eine „offene-Tür-Politik“ in der Psychiatrie die Anzahl der notwendigen Zwangsmaßnahmen massiv senkt, die Aggressionsbereitschaft wird dadurch ganz erheblich beeinflusst – so schlecht kann es also gar nicht sein die Türen – oder Grundgrenzen – offen zu halten. Auch ein Haus oder eine Wohnung wollen regelmäßig gelüftet werden um Schimmelbildung vorzubeugen – offene Fenster bringen also auch hier mehr gesundes Klima. Trotzdem kann es auf Dauer etwas zugig werden; ein wenig Windschatten schafft Raum für Erholung – und gutes Klima für wärmeliebende Pflanzen.
Unsere Mauer begrenzt zum Glück nur eine Seite – nach drei Seiten haben wir noch die Möglichkeit uns offen zu halten oder leicht überwindbare Grenzen zu ziehen. Was wir mit der Mauer machen? Wir pflanzen Efeu und hoffen Vögeln und Insekten damit Nistraum zu schaffen. Und wer weiß, vielleicht fällt sie ja doch noch um oder lässt sich in ein wild-romantisches Schmuckstück verwandeln – mit Geduld und liebevoller Zuwendung.